Vorwort
Erinnerung ist Gegenwart. Mit jeder neuen Generation ändern sich Perspektiven auf vergangene Zeiten und Ereignisse. Junge Menschen eignen sich stets auf ihre eigene Weise, mit neuen Fragen und Interessen jene gesellschaftlichen Erinnerungen an, die von der Generation ihrer Eltern und Großeltern geprägt und vermittelt wurden. Heute können junge Menschen in Deutschland und Frankreich immer weniger Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs oder Überlebende der Shoah befragen. Und immer stärker wird die Zukunft der Erinnerung von der rasant voranschreitenden Digitalisierung mitgestaltet. Im Internet, also inmitten des Lebensalltags junger Menschen, werden bisweilen Desinformationen verbreitet oder Geschichte geleugnet: ein Risiko für die Demokratie und für den Frieden in Europa.
Cartorik setzt hier an. Cartorik ist eine digitale, dynamische Landkarte der deutsch-französischen Geschichte. Manche der ausgewählten Erinnerungsorte sind weltberühmt, andere weitgehend unbekannt. Mehrheitlich liegen sie in Deutschland und Frankreich, einige in Nachbarländern in Europa, in Afrika oder Asien. Viele Erinnerungsorte erzählen von den Abgründen der von Kriegen und Gewalt geprägten deutsch-französischen Geschichte, andere von der weltweit einzigartigen deutsch-französischen Freundschaft - bis in die Gegenwart. Cartorik richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene, aber auch an Lehrer:innen und Teamer:innen von Bildungs- und Jugendprojekten. Denn im Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW) sind wir überzeugt: Im Jugendaustausch entsteht die Zukunft einer europäischen Erinnerungskultur. Bis zu 200.000 Menschen nehmen pro Jahr an den Projekten des DFJW und seiner Partner teil.
Am Anfang von Cartorik stand eine Frage: Wie können wir die jahrzehntelang gewachsene Erinnerungskultur an die jungen Leute von heute, an die Instagram-Generation, vermitteln? Unter der wissenschaftlichen Leitung eines deutsch-französischen Historiker-Tandems sowie mit der fachlichen Expertise von mehr als 60 Historiker:innen aus Deutschland, Frankreich und Europa hat unser Team versucht, diese Schlüsselfrage zu beantworten, während in Europa wieder ein Krieg tobt. Je besser wir die Geschichte jener Orte kennen, an denen wir leben oder die wir in Deutschland und Frankreich besuchen, umso besser sind wir für eine gemeinsame, friedliche Zukunft gewappnet.
Wir danken herzlich den deutsch-französischen Historiker:innen, insbesondere den wissenschaftlichen Koordinator:innen, Prof. Dr. Corine Defrance und Prof. Dr. Ulrich Pfeil, unserem Pädagogik-Team, insbesondere Anne Jardin und Sandrine Debrosse-Lucht, sowie der Agentur &why für die großartige Zusammenarbeit an diesem für uns außergewöhnlichen Projekt. Wenn diese digitale Landkarte deutsch-französischer Erinnerungsorte in Jugendherbergen oder im Klassenzimmer, im Reisebus oder im Nachtzug, im Café oder im Park, auf dem Sofa oder am Küchentisch zum Gespräch über die Gegenwart und Zukunft der Erinnerungen anregt, dann erfüllt die Cartorik ihren Zweck.
Tobias Bütow und Anne Tallineau, Generalsekretär:innen des DFJW
Gebrauchsanweisung
Das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) hat Cartorik herausgebracht, eine digitale Karte von „63+“ Orten der deutsch-französischen Geschichte: „63“, da das DFJW im Jahr 1963 gegründet wurde und „+“, weil es sich um ein offenes Projekt handelt. Diese Orte stehen symbolisch für unsere gemeinsame Geschichte seit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871. Sie decken über eineinhalb Jahrhunderte Geschichte ab.
Es handelt sich um ganz unterschiedliche Orte. Manche sind mit einer traumatischen Geschichte verbunden: Schlachten wurden geschlagen, Massaker begangen oder sie stehen im Zusammenhang mit dem Holocaust, dem systematischen Völkermord an den Jüdinnen und Juden in einem von NS-Deutschland dominierten Europa. An anderen Orten haben sich Naturkatastrophen zugetragen, die Maßnahmen der deutsch-französischen Solidarität angeregt haben oder transnationale Protestaktionen, wie die ersten Aktionen der Umweltschutz- und Anti-Atomkraft-Bewegung. Aber natürlich gibt es auch glückliche Geschichten, mit symbolträchtigen Orten der Annäherung, der Versöhnung, der Zusammenarbeit und der Freundschaft zwischen den Menschen wie etwa Städtepartnerschaften und Jugendbegegnungen. Manche verbinden negative und positive Aspekte der Erinnerung.
Die ausgewählten Orte stehen in Verbindung zu vier großen Zeitabschnitten der Geschichte:
An manchen Orten haben Ereignisse stattgefunden, die mehrere Zeitabschnitte betreffen (siehe Kategorie „zeitübergreifend“). Das historische Vermächtnis, das diese Orte heute vermitteln – oder nicht – wird systematisch in den Texten behandelt.
Wir haben hauptsächlich Orte ausgewählt, die sich heute in Deutschland oder Frankreich befinden, die jedoch im Laufe der Zeit und aufgrund der veränderten Grenzverläufe manchmal „auf der anderen Seite“ waren. Das gilt etwa für das Elsass und das Departement Moselle, die von 1871 bis 1918 vom Deutschen Reich und von 1940 bis 1944/45 von NS-Deutschland annektiert waren. In der Zeit zwischen 1945/49 und 1990 gab es mit der Bundesrepublik Deutschland und der Deutsche Demokratische Republik zwei deutsche Staaten, was auch berücksichtigt wurde. Manche Orte befinden sich genau auf der Grenze und spiegeln ihre Funktion wider, die je nach Zeitabschnitt eine der Abgrenzung und der Kontrolle oder eine des Durchgangs als Symbol des Austauschs und der Zusammenarbeit war. Es wurden auch Orte der deutsch-französischen Geschichte außerhalb der beiden Länder ausgewählt; sie liegen in Europa oder weiter entfernt in Afrika oder in Asien. Diese Orte zeugen von der Kolonialgeschichte und den imperialen Wechselwirkungen, von der Entkolonialisierung und ihrer Erinnerung. Die europäischen Orte – von Spanien bis Polen, von Norwegen bis Albanien, von Luxemburg über die Schweiz bis in die Ukraine – geben Aufschluss über Momente der Solidarität, der mehr oder weniger erfolgreichen Zusammenarbeit und manchmal auch des Konflikts, sei es bilateral, multilateral oder länderübergreifend.
Auch wenn es sich um ein offenes Projekt handelt, das um neue Orte ergänzt werden wird, will und kann Cartorik keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ziel war ein Gleichgewicht zwischen den dargestellten Regionen und Zeiträumen sowie zwischen den verschiedenen Perspektiven: Es wurden Orte ausgewählt, die repräsentativ für die politische, kulturelle, wirtschaftliche, militärische und gesellschaftliche Geschichte stehen. Wer sich für Sport, Bildung, Konflikte zwischen Diktaturen und Demokratien sowie freiwillige oder erzwungene Völkerbewegungen interessiert, findet bei Cartorik Orte, die Spuren und Erinnerungen dieser Ereignisse tragen. Der Stellenwert und die Rolle von Kindern und Jugendlichen bei den genannten Ereignissen werden systematisch hervorgehoben.
Für alle, die die deutsch-französische Geschichte einmal anders erleben wollen, gibt es thematische Rundgänge: Jugend, Abkommen und Verträge, Lager, Städtepartnerschaften, Sport und Musik. Eine Auswahl zu treffen, bedeutet natürlich auch immer, auf etwas zu verzichten. Aber wir haben uns von einem Grundsatz leiten lassen, nämlich dem der Ausgewogenheit zwischen sehr bekannten und zum Teil stark mediatisierten Orten, an denen regelmäßig offizielle Gedenkveranstaltungen stattfinden, und Orten, die der breiten Öffentlichkeit unbekannt sind, die (noch) keine Gedenkorte sind oder in Vergessenheit geraten sind. Es kann sich auch um Orte handeln, die zwar materielle Spuren der Geschichte tragen (Ruinen, Bauwerke, Landschaften usw.), aber nicht im historischen Gedächtnis verankert sind: Hier gibt es keine Gedenk- oder Hinweistafeln, keine privaten oder öffentlichen Initiativen zur Erinnerung an die Geschehnisse und schon gar keine Gedenkveranstaltungen. In manchen Fällen ist dieser Prozess bereits im Gange und spiegelt das Interesse unserer Gesellschaft an dieser gemeinsamen und geteilten Geschichte wider. Erkennen, Vertiefen und Entdecken ist das Prinzip von Cartorik.
Neugierige aufgepasst. Cartorik kann auf drei Arten genutzt werden:
Die Texte werden durch Fotos, audiovisuelles Material, Reproduktionen von Archivdokumenten und Vorschläge zur Vertiefung ergänzt. Wir wünschen viel Spaß bei der Entdeckungsreise!
Prof. Corine Defrance und Prof. Ulrich Pfeil
Wissenschaftliche Koordination des Projekts
Orte
1870-1918:
Frankreich:
Courrières (Alexandre Bibert), Fleury-devant-Douaumont (Nicolas Beaupré), Gravelotte (Nicolas Bourguinat), Metz (Alexandre Kostka), Paris – Deutsches Viertel (Mareike Koenig), Roubaix (James Connolly), Thélus (Maude Williams).
Deutschland:
Leipzig (Bettina Severin-Barboutie).
Außerhalb Frankreichs/Deutschlands:
Togo und Benin (Isabell Scheele).
1919-1945:
Frankreich:
Colombes (Franz Kuhn), Gurs (Hélène Leclerc), Hotel Excelsior (Dominique Trimbur), La Cambe (Marie-Annick Wieder), Oradour-sur-Glane (Stéphanie Boutaud), Paris - Hotel Lutetia (Henning Fauser), Paris - Vel d'Hiv (Dominique Trimbur), Sanary-sur-Mer (Magali Nieradka-Steiner), Vercors (Ulrich Pfeil), Vichy (Audrey Mallet).
Deutschland:
Berlin - Französische Buchhandlung in der Passauerstraße (Corine Defrance), Buchenwald (Philipp Neumann-Thein), Duisburg (Andreas Pilger), Hohenlychen (Jérémie Dubois), München (Alexandre Bibert), Sigmaringen (Clemens Klünemann).
Elsass-Mosel faktisch annektiert:
Ban Saint-Jean (Chrystalle Zebdi-Bartz), Schirmeck (Catherine Maurer), Straßburg - Reichsuniversität (Christian Bonah).
Außerhalb Frankreichs/Deutschlands:
Colpach - Luxemburg (Gaby Sonnabend), Oslo - Norwegen (Marion Aballéa).
1945-1989:
Frankreich:
Chartres (Fabien Théofilakis), Fessenheim (Olivier Hanse), Gunsbach (Jenny Litzelmann), Limours (Dorothea Bohnekamp), Paris – Elysée Palast (Ansbert Baumann), Paris - Gedenktafeln (Céline Largier Vié), Paris - Quartier Latin (Silja Behre).
Deutschland:
Berlin - Flughafen Tegel (Uta Birkemeyer), Berlin - Französisches Kulturzentrum Unter den Linden (Ulrich Pfeil), Cottbus (Constanze Knitter), Freudenstadt (Anne-Laure Briatte), Göttingen (Corine Defrance), Ludwigsburg (Jacqueline Boysen), Loreley (Jacqueline Plum), Nordrach (Yves Dénéchère), Ratstatt (Matthias Gemählich), Saarbrücken (Franziska Flucke), Sankt Germanshof (Pia Nordblom).
Außerhalb Frankreichs/Deutschlands:
Dien Bien Phu - Vietnam (Eckart Michels), Mont Pèlerin - Schweiz (Corine Defrance), Sevilla - Spanien (Albrecht Sonntag).
1990 bis heute:
Frankreich:
Saint-Denis (Sophie Hegemann), Toulouse (Jürgen Finger).
Deutschland:
Müllheim (Benjamin Pfannes), Weimar (Frédéric Weber).
Grenzüberschreitend:
Strasbourg/Kehl - Frankreich/Deutschland (Birte Wassenberg).
Außerhalb von Frankreich/Deutschland:
Kiew - Ukraine (Christoph von Marschall), Tirana - Albanien (Nicolas Moll).
Zeitübergreifend:
Frankreich:
Reims (Andreas Linsenmann), Versailles (Ulrich Pfeil).
Deutschland:
Aachen (Harald Müller), Basdorf (Nina Bärschneider), Mainz (Michael Kißener).
Außerhalb Frankreichs/Deutschlands:
Gdansk - Polen (Paul Gradvohl)